Geht das auch nett?

Über Kommunikation, Social Skills und Training

Helden haben Muffensausen

November 12, 2015

Achtung, der folgende Text kann derbe Formulierungen enthalten und ist für schamdurchsetzte Leser nicht geeignet.

Muffe ist die Bezeichnung für ein extrem kurzes Rohr. Saust etwas mit erhöhter Geschwindigkeit durch diesen knappen Abschnitt, ist es logischerweise nur schwer aufzuhalten. Umgangssprachlich bezeichnet Muffe den Enddarm und wem da was ungebremst durchsaust, der hat wahrhaft „Schiss inne Büx“.

Muffensausen, Bangbüx, Hose voll, Fracksausen – der Volksmund (gemeint sind unsere Vorfahren und wir) beschreibt sehr genau, was passiert, wenn ein Mensch richtig Angst hat. Ausgerechnet der Darm, dieses peinliche Organ, wird nervös und verliert an Spannkraft. Er lässt sich, und damit uns, einfach hängen. Das Gefühl des kompletten Kontrollverlustes versuchen wir verständlicherweise tunlichst zu umgehen. Da, wo die Angst sitzt, geh ich jedenfalls freiwillig nicht hin.

Die täglichen Herausforderungen schert das allerdings herzlich wenig. Und so war ich erst kürzlich wieder ne olle Schietbüx. Man gebe mir einen beliebigen Text, den ich vor Menschenmasse X aus dem Stegreif präsentieren soll und ich performe – solange ich es auf Deutsch tun kann. Und genau da liegt das Problem, wenn man Teil eines Projektes in einem weltumfassenden Konzern ist. Ein Webinar auf Englisch war anberaumt und ich sollte einen kleinen Part übernehmen. Inhaltlich keine große Sache, sprachlich aber schon. Mein Schulenglisch beraubt mich meiner Spontaneität, von Wortwitz und brillanten Formulierungen mal ganz zu schweigen. Ich fühle mich im Englischen nackt und hilflos. Und meinem Darm gefällt das gar nicht. Auf dem Weg zum Klo traf ich einen Kollegen, dessen Gesichtsfarbe der meinen glich. Er sollte vor einem großen englischsprachigen Auditorium sein Projekt vorstellen. Und so gönnten wir uns erstmal einen Tee, magenschonend.

Da saßen wir zwei Schisser nun und redeten ehrlich über unsere Angst. Dabei hätten wir so gern unsere Umhänge übergeworfen und heldenhaft die Welt gerettet oder zumindest den Tag und die Firma, naja, auf jeden Fall aber das Meeting.

Denn bei den Helden unserer Kindheit gibt es das einfach nicht. Batman hat nie die Hosen voll, dafür hat er Robin. Supermann zeigt nur in der Nähe von Kryptonit Symptome einer Bangbüx und Catwoman bekommt Fracksausen frühestens, wenn nur noch eins ihrer sieben Katzenleben übrig ist.

Aber nun mal ehrlich, ist das wirklich heldenhaft? Wer weiß, dass er unbesiegbar ist oder mehrere Leben zur Verfügung hat, der soll verdammt noch mal seine Fähigkeiten für die Gemeinschaft einsetzen und Gotham City retten. Wäre ich Wonder Woman, ich täte es. Ich würde es allerdings nicht unbedingt als heldenhaft bezeichnen, wenn ich genau das tue, was mir so unglaublich leichtfällt. Das ist Pflicht, nicht Kür.

Ist man dagegen ein echter Mensch aus Fleisch und Blut und bringt sich und andere trotzdem immer wieder naiv und angstbefreit in Lebensgefahr, empfehle ich einen guten Therapeuten. Das gehört nämlich behandelt und ist keinesfalls heldenhaft. Es sei denn, man heißt Rambo, dann will ich nix gesagt haben.

Was macht einen wahren Helden aus? Nehmen wir zum Beispiel meinen Kollegen: Dass er mit seinen Englischkenntnissen international an seine Grenzen stoßen würde, wusste er von Anfang an. Deshalb hat er seit Jahren Privatunterricht. Er kennt seine Schwachstellen sowohl in puncto Grammatik als auch in der Bereitschaft mit dieser Unzulänglichkeit vor die Öffentlichkeit zu treten. Und deshalb arbeitet er hart an beidem. Er stellt sich jedem Vortrag und absolviert sein wöchentliches Training. Mein Kollege ist nicht angstfrei in das Meeting gegangen, aber auch nicht naiv, sondern bestens vorbereitet. Sein Vortrag war ein voller Erfolg. Was für ein Held.

Ich habe mich dagegen nach dem Webinar nicht besonders heldenhaft gefühlt. Es war ganz ok, aber bei weitem nicht vergleichbar mit dem satten, zufriedenen Grinsen auf dem Gesicht meines Kollegen nach seiner Präsentation. Aber wieso bloß? Ich war auf meinen ersten globalen Einsatz doch auch vorbereitet.

Was mir zu schaffen macht, wird in der Psychologie „Innere Grenze“ genannt. Und diese Grenze suggeriert mir permanent, dass hinter ihrer Linie Feindesland lauert und ich lieber auf der sicheren Seite bleiben soll. Ganz Unrecht hat sie damit nicht, es besteht im Neuland tatsächlich die Gefahr, dass ich aus Unsicherheit Fehler mache, peinliche Fehler vielleicht sogar. Und das macht mir Angst. Ein kluger Kopf hat mal gesagt, dass aber genau da, wo die Angst sitzt, auch der Fortschritt wartet. Wer demnach weiterkommen will, muss sich seiner Angst stellen, aus seinen Fehlern lernen - und rein ins nächste Webinar.

In meiner Ausbildung habe ich gelernt, dass permanentes Training die innere Grenze kontinuierlich dehnt und weitet wie ein dickes Gummiband. Mit Mut und Ausdauer erobern wir uns auf diese Weise unbekanntes Terrain. Und langsam aber sicher passiert es dann: Wir werden trittsicherer auf dem neuen Gebiet - so wie mein Kollege.

Bei Muffensausen hilft deshalb nur eins: Hintern zusammenkneifen (im wahrsten Sinne des Wortes). Und dann ran an die Grenze, tief durchatmen und Neuland erkunden - weil wir Helden sind.