Geht das auch nett?

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Jonah und die Männlichkeit der hohen Töne

December 18, 2016

Da stand ein attraktiver, bärtiger Mann auf einer Konzertbühne und sang. Das war es zumindest, was ich sah. Was ich aber hörte, passte einfach nicht ins Bild – will sagen, nicht in „mein Bild“ von einem attraktiven, bärtigen Mann.

Die glockenklare, hohe Stimme war berührend, überirdisch und eben darum im Gesamteindruck ein wenig verstörend. Ich schüttelte die Fernbedienung - aber der Fernseher schien in Ordnung.

Natürlich weiß ich, dass auch Jungs ganz beeindruckend hoch singen können. Mein Neffe Jonah beispielsweise rührt mit seiner reinen, engelsgleichen Intonation des „Pie Jesu“ aus dem Requiem von Andrew Lloyd Webber seine Zuhörer regelmäßig zu Tränen, mich eingeschlossen.

Schade ist ja nur, dass diese sphärenhafte Gabe ein natürliches Verfallsdatum hat. Denn mit Einsetzen des Stimmbruchs wird den jungen Künstlern das kostbare Geschenk auf unsanfte und fast groteske Weise wieder entrissen.

Fasziniert folgte ich daher dem Bericht über sogenannte Countertenöre der Neuzeit. Wie machen die das? Exorbitantes Training oder Laune der Natur? An die Grausamkeiten, die jungen Talenten noch vor 200 Jahren zugefügt wurden, nur um die Schönheit ihrer Stimmen zu konservieren, wagte ich gar nicht erst zu denken. Aber natürlich kommt eine Dokumentation über männliche Hochtöner nicht ohne Erwähnung der Kastraten aus. Schließlich waren sie die Superstars des 17. und 18. Jahrhunderts. Die Musikszene des vergnügungssüchtigen Barocks lag ihnen im wahrsten Sinne des Wortes zu Füßen. Sänger wie Nicolini, Senesino, Carestini, Cafarelli und Farinelli  übten eine enorm sinnliche Anziehungskraft auf Menschen beiderlei Geschlechts aus und füllten die größten Konzerthäuser Europas. Aus heutiger Sicht ist sowohl die berauschende, schwülstige Verehrung als auch der hohe Riechsalzkonsum im Auditorium der Oper nur schwer nachvollziehbar - und gerade deshalb überaus faszinierend. Denn wie gelangte eine ganze Epoche so nachhaltig in derartige Verzückung?

Ursächlich war wohl ein päpstliches Gebot Ende des 16. Jahrhunderts, das es Frauen fortan untersagte, sich musisch zu betätigen oder anders gesagt: Frauen war das Singen in der Öffentlichkeit verboten. Im alsbald einsetzenden Mangel an  Sopran- und Altstimmen sowohl im Sakralen als auch Säkularen setzten Chöre nun allein auf Knaben und Opern für die Soli vermehrt auf Kastraten.

Die Stimme des männlichen Erwachsenen, der den Stimmbruch nicht durchlaufen hatte, faszinierte die Musikwelt zunehmend. Als Folge der unterbundenen Pubertät wuchsen die Stimmbänder der Kastraten im Gegensatz zum Brustkorb nicht mit. Auf diese Weise entstand eine voluminöse, kraftvolle, helle Stimme, die es auf der Welt tatsächlich noch nie gegeben hatte.

Was als bloßer Ersatz für alles Weibliche in der darstellenden Kunst begann, steigerte sich im 17. Jahrhundert zur allgemeinen Annahme, die klare, helle Tongewalt sei Ausdruck des Metaphysischen. Die Stimme der Kastraten wurde zum Abbild des Übermenschlichen, des Sphärischen, des Göttlichen.

Komponisten wie Georg Friedrich Händel beflügelten mit dem Erfolg ihrer Musik diese Euphorie maßgeblich. In seiner Oper „Giulio Cesare“ beispielweise, die am 20. Februar 1724 in London viel umjubelt uraufgeführt wurde, war die Stimme des römischen Imperators mit Francesco Bernardi genannt Senesino besetzt - einem Meszzosopran. Dagegen sang Heerführer Achilla untergebenst und gehorsamst mit tiefstem Bass. Für die damalige Zeit galt: je mächtiger eine Heldenfigur, desto höher sang sie.

Die Reportage entführte mich in ein mir bis dato unbekanntes Klassikmilieu, das sich selbstbewusst und leidenschaftlich das Originaltimbre der barocken Klangwelt zurückerobert. Ganz ohne physischen Eingriff in die Natur erreichen heutige Countertenöre allein durch Talent, Technik und Training virtuose Höhen. Die Sänger haben ansonsten aber ganz normale Männerstimmen. Weil ihre Stimmbänder voll ausgebildet sind, können sie diese sogar viel virtuoser zum Einsatz bringen, als es die Kastraten vermochten.

Ich ahnte, dass meine gesellschaftlich geprägten Ohren bei der Zuordnung von Tönen in die Stereotypenfalle geraten waren als Tamar Halperin, Dirigentin sowie Ehefrau des eingangs erwähnten Countertenors, Andreas Scholl, über die erste Begegnung mit ihrer großen Liebe sprach. Da stand ein bärtiger Mann am Klavier und sang raumfüllend und berührend in den höchsten Tönen. Sie beteuerte, das sei der erotischste Moment gewesen, den sie je zuvor erlebt habe.

Ein Gefühl, so ganz anders als meine erste Verwirrung. Erlaubte mir die Eingeschränktheit meines Gehörs nicht den Genuss von etwas, das ich nicht verstand? Oder war meine Reaktion lediglich der Trägheit meines Geistes geschuldet? Denn je angestrengter ich darüber nachdachte, desto mehr Musiker fielen mir ein, die sich zumindest zeitweise in höhere Gesangsebenen begeben und damit ihre sinnliche Männlichkeit erheblich unterstreichen und zwar ganz nach meinem Geschmack. Markant, unerreicht und meinen Puls höhertreibend zum Beispiel bei Sting, Bruce Springsteen, der Boss, tut es ebenfalls im Song „Lift me up“ aber auch immer mal wieder Mick Jagger, Morten Harket, Neil Young, Axl Rose usw. Freddy Mercury bewegte sich sogar sicher und präzise innerhalb von sagenhaften 3,5 Oktaven. Wer das immer noch nicht männlich findet, schaue bitte zurück auf die Heavy Metal Szene der 1980er Jahre, die Bands hervorbrachte, deren Sänger schrill und klanglich extrem abgehoben ihre Antihaltung und ihren Widerwillen in die Welt schrien. Painkiller von Judas Priest – nur mal so als Anregung. Ich musste dringend mit Jonah reden.

Darauf angesprochen, schenkte mir dieser ein vergnügtes Augenzwinkern und ein wissendes Lächeln. Denn die Barockmusik mit ihren neuen Stars war zu diesem Zeitpunkt längst Teil seiner Welt. Als gute Tante hätte mir schon eher auffallen müssen, dass er mit 15 Jahren natürlich mitten im Stimmbruch angekommen ist und wie von Zauberhand immer noch glasklar unter anderem besagtes „Pie Jesu“ singt.

Jonah entdeckte die Liebe zur barocken Musik durch den zeitweiligen Einsatz seiner Kopf- bzw. Falsettstimme im Rahmen des Gesangsunterrichts, den er seit dem 9. Lebensjahr erhält. Mit der Zeit und dem Ausbau seiner Fähigkeiten wurden die Stücke anspruchsvoller und virtuoser. Aus anfänglicher Faszination entstand eine tiefe Leidenschaft und Jonahs Wunsch wuchs, den vorhandenen Stimmumfang über den Stimmbruch hinweg zu erhalten und die technische Beweglichkeit in den hohen Lagen auszubauen.

Über die Definition von Kopf- bzw. Falsettstimme streiten sich die Gelehrten. Fakt ist, dass fast jeder ganz normal über diese hohe Stimme verfügen kann. Der Volksmund nennt sie etwas verächtlich Fistelstimme, weil die gequält hervorgepresste höhere Oktave das Organ widernatürlich piepsig und krächzend klingen lässt. Ganz im Gegensatz dazu bringt die geübte und somit eigentlich unnormale Kopfstimme ein zwangloses, offenes, natürlich wirkendes Timbre hervor. Ohne Talent und Training bringt also niemand ein Vibrato oder Crescendo im Falsett zustande, geschweige denn eine Dynamik und  Vielfalt des Tons.

Jonah verdeutlichte mir das Prinzip am Beispiel von Franco Fagioli. Der begnadete Countertenor besitzt von der Veranlagung her einen natürlichen Alt. Durch die Technik, der mittels Brustresonanz verstärkten Kopfstimme, ist er zudem in der Lage sich virtuos im Sopran zu bewegen. Insgesamt deckt er damit ganze 3 Oktaven in den hohen Lagen ab.

Die Chicago Tribune schrieb über Franco Fagiolis Interpretation der Titelrolle Jason in  Cavallis Giasone am Chicago Opera Theater: „… seine Stimme klingt lieblich, aber voll, und seine sanfte Macho-Manier macht Jasons überwältigende Wirkung auf Frauen glaubhaft.“

Um mein Gehör und mein Verständnis zu schulen, versorgte Jonah mich erst einmal mit Material, in das ich mich versenken konnte. Unter anderem lieh er mir die CDs seiner Lieblingsoper Artaserse von Leonardo Vinci (1690-1730), nicht zu verwechseln mit dem Maler und Bildhauer Leonard Da Vinci.

Diese Oper gehört zu den vergessenen Werken des Barock, die ihre Wiederentdeckung der neuen Szene auf der Suche nach musikalischen Perlen vergangener Zeiten verdankt. In dieser hochgelobten Aufnahme von  2011 sind Jonahs Vorbilder allesamt vertreten: Philippe Jaroussky, Franco Fagioli, Max Emanuel Cencic und Valer Barna-Sabadus. Die Oper ist von Anfang bis Ende ein rauschendes Fest oder besser gesagt, ein voluminöses, prachtvolles Gelage für Augen und Ohren! Es ist purer Spaß diesen jungen Männern dabei zuzusehen, wie sie der einst verschollenen Musik wieder Lust und Leben einhauchen. Man reiche mir mein Riechsalz.

Jonah B. Petersen und Philippe Jaroussky

Jonah B. Petersen und Philippe Jaroussky 2016

Die Entwicklung zum Countertenor mag für einen Jugendlichen heutiger Zeit ungewöhnlich sein – im Fall von Jonah aber ist sie die fast logische Konsequenz eines außergewöhnlichen Charakters.

Jonah hat bei der Wahl seiner Interessen noch nie auf Mode, Trends oder Mainstream geachtet. Er folgt einfach seiner Neugier und seiner Leidenschaft. Und welches Thema er auch immer zu fassen hat, er verfolgt es ausdauernd, hartnäckig, selbstbewusst und mit einer ansteckenden Freude.

Als kleiner Junge beispielsweise war Jonah fasziniert von Pferden. Wenn möglich, sollten sie auf diversen Utensilien abgebildet sein. Dass die Werbung diese Begeisterung nur Mädchen zugestand, war ihm egal. Schließlich hatten auch Cowboys, Ritter, Hunnen und Indianer eine besondere Beziehung zu ihren Tieren. Und so blieb es das Problem der Verwandtschaft, Geburtstagsgeschenke mit Pferdeaufdruck für Jonah zu finden, die nicht quietsch-rosa waren. Jonah schrieb eigene Kurzgeschichten, malte, komponierte, wurde überzeugter Vegetarier in einem Alter, in dem andere Kinder noch glauben, dass Würstchen auf Bäumen wachsen, und wer etwas über guten Tee und seine Zubereitung wissen möchte, wende sich vertrauensvoll an Jonah. Zurzeit verbringt er seine Freizeit gern mit der Lektüre historischer Wälzer über Aufstieg und Untergang vergangener Hochkulturen.

Was sich aber nicht nur begleitend sondern prägend durch sein junges Leben zieht, ist die Musik. Angeleitet durch seine musikbegeisterten und vielseitig talentierten Eltern konnte er sich in den unterschiedlichsten Genres und an verschiedenen Instrumenten ausprobieren. Schon früh stand Jonah mit seiner Familie auf der Bühne, er sang, spielte Flöte, Gitarre und Klavier und moderierte mit Charme und Witz. Wer Jonah privat kennt, mag unter anderem seine kluge, überlegte, sich zurücknehmende Art schätzen, coram publico aber mutiert eben jener Jonah zur, Entschuldigung, Rampensau. Er imitiert  Elvis, Freddy Mercury oder Mika – kein Problem. Er inszeniert, interpretiert und inspiriert. Er begeistert und berührt.

Ja, ich kann es nicht verbergen, ich bin ein großer Fan.

Sein Showtalent und seine natürliche Bühnenpräsenz im Rock und Pop sind mitreißend und machen ihm sichtlichen Spaß. Was ihn aber antreibt und beseelt, sind die Herausforderungen in der klassischen Musik. Jonah erklärte mir, dass er lernen möchte, seine Stimme so virtuos zu beherrschen wie andere Künstler ihr Instrument. Zum Glück wurde sein Talent im Bereich der hohen Lagen gerade noch rechtzeitig erkannt und gefördert. Unter Anleitung seines Gesangslehrers, einem Countertenor, arbeitet er seither hart daran, seinem großen Ziel Stück für Stück näher zu kommen. Kürzlich hatte ich nach langer Zeit einmal wieder das Vergnügen, Jonah zu erleben, wie er vor großem Publikum alle Register zog.

Da stand ein gutaussehender, junger Mann auf der Bühne und sang - in den höchsten Tönen. Ich war berührt, begeistert und stolz. Und auf einmal passte alles zusammen.

https://www.youtube.com/watch?v=WD\_nSfQEQ7k

https://www.youtube.com/watch?v=5e6Eq8jjxBY

https://www.youtube.com/watch?v=rXmF6h3Yd\_A

https://www.youtube.com/watch?v=V-Jte7zJw8M