Geht das auch nett?

Über Kommunikation, Social Skills und Training

Wo bitte geht’s denn hier zur Political Correctness?

November 27, 2015

Die Welt ist schlecht. Aber ich, ich bin ein guter Mensch.

Ich wage diese Behauptung, weil ich ehrlich und tief erschüttert bin, wenn Menschen durch die Hand anderer Menschen sterben. Und es zerreißt mir fühlbar das Herz, wenn ich Kinder leiden sehe. Dabei sind mir die Herkunft, die Religion, die sexuelle Orientierung und die politische Ausrichtung total egal. Ich will nicht, dass andere Menschen gequält werden, dass sie Angst haben, dass sie hungern. Ich will, dass es allen gut geht. Das mag angesichts der globalen Umstände naiv sein, steht aber als frommer Wunsch gesellschaftlich anerkannt auf der Seite des Guten.

Die Attentate von Paris haben mich unfassbar schockiert und emotional sehr aufgewühlt. Einen Tag später erfuhr ich durch Zufall, dass es kurz zuvor einen Anschlag des sogenannten Islamischen Staates mit vielen Toten und Verletzten in Beirut gegeben hat. Darüber wurde in den Medien, die ich abonniert habe, nicht berichtet. Die Erkenntnis, dass Agenda Setting meine Trauer lenkt und dosiert, hat mir das moralisierende Gefühl des „gerechten Zorns“ beschert. Auf einmal war ich echt angenervt von all den französischen Flaggen über fröhlichen Profilbildern auf Facebook. Warum wehte nirgends die Fahne des Libanon? Und by the way, wie sieht die eigentlich aus? Ich begab mich auf die Suche.

Sie ist wunderschön – ein grüner, üppiger, kraftvoller Baum auf weißem Grund, horizontal eingerahmt von zwei strahlend roten Streifen. Das Symbol eines menschenverachtenden Regimes nannte es eine Frau in Erwiderung eines Blogposts der ZEIT mit ähnlichem Inhalt. Sie hat Freunde im Libanon, die von dem Attentat direkt betroffen waren, aber sie käme niemals auf die Idee, diese Fahne als Zeichen der Solidarität zu hissen. Sie schrieb, die französische Tricolore eigne sich dagegen deshalb besonders gut, weil sie für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit stehe.

Und damit hat sie wohl Recht. Dann eben kein libanesisches Signum über meinem grinsenden Konterfei. Mittlerweile hätte ich eh auf die Farben Malis umschwenken müssen, wieder eine Geiselnahme, wieder sind Tote zu beklagen. Diesmal wären es die leuchtend schönen Farben Grün, Gelb und Rot gewesen, vereint im Leitmotiv: „ein Volk, ein Ziel, ein Glaube“. Oder, ne, besser doch nicht. Denn spontan stellen sich der Historikerin in mir die Nackenhaare auf: „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“ - nur so viel, zu meiner ersten Assoziation. Fahnentechnisch bin ich raus.

Ganz nebenbei ärgert mich jetzt gewaltig, dass es indirekt ausgerechnet Terroristen sind, die mich durch das Ermorden von Mitmenschen dazu bringen, mir mehr Wissen über Geografie, Geschichte, Politik und Religion des Nahen Ostens und Afrikas anzueignen.

Und warum habe ich nochmal mehr Flaggen zur Auswahl auf Facebook gefordert? Ach ja, meiner Anteilnahme und meinem Gerechtigkeitssinn sollte Genüge getan werden. Schließlich sind alle Menschen gleich viel wert. Das ist Fakt und das wollte ich damit zum Ausdruck bringen. Dabei ist es egal, wieviel ich über sie und ihr Leben weiß. Oder? Ja! Aber.

Meine anfänglich beschriebene Empörung scheint mir mittlerweile total hausgemacht. Sie entspringt meinem eher unbewussten Widerstreit zwischen Wissen und Emotion. Mein Kopf weiß, dass alle Menschen gleich sind. Aber mein Gefühl kennt Paris und erinnert sich an Café au Lait in kleinen Straßencafés und an Spaziergänge entlang der Seine mit Menschen, die mir viel bedeuten. Ich liebe französischen Rotwein, Charles Asnavour und „La vie en rose“. Ich verehre Simone de Beauvoir, Jules Verne und das französische Savoir-vivre. Und nicht nur das, ich nehme mir als Frau sogar die Freiheit, selbstbestimmt zu leben; zu lieben, wen ich will und zu glauben, was ich will. Hinzu kommt eine leichte Schwäche für Heavy Metal. Nur Fußball interessiert mich weniger, es sei denn, die Nationalmannschaft spielt.

Das war ein Anschlag auf Menschen, die so sind wie ich. Ein Anschlag auf meine Lebensart. Indirekt also ein Anschlag auf mein Leben. Deutlich gespürt habe ich das, als ich fünf Tage nach dem Attentat mit Kollegen in Hannover unbeschwert den neuen Bond genießen wollte. Während 007 im knitterfreien Outfit, Blondine am Arm und Knarre im Anschlag stoisch durch eine Schneise der Verwüstung watete, wurde zeitgleich das Fußballspiel „Deutschland gegen Niederlande“ abgesagt und eine offizielle Terrorwarnung für die ganze Stadt Hannover herausgegeben. Am Ende des Films war klar, James hatte im Namen Ihrer Majestät die perfide geplante Sprengung des vollbesetzten Stadions verhindert und auch das Stadion am Maschsee stand noch - aber das Kino war so gut wie leer. Wir haben Angst. Und ein 00-Programm gibt es nicht. Auch das ist Fakt.

Zur selben Zeit fand das Länderspiel „England gegen Frankreich“ unbeirrt in London statt. Vereint wurde in einer Schweigeminute der Opfer von Paris gedacht, Prinz William, Sprössling besagter Majestät, legte einen Kranz in den Nationalfarben des Nachbarn auf britischem Boden nieder und gemeinsam sang das gesamte Wembley-Stadion wie aus einer Kehle die französische Nationalhymne – die Marseillaise. Die Maseillaise, in der es im Refrain heißt: „Zu den Waffen, Bürger, formt eure Truppen, marschieren wir, marschieren wir! Unreines Blut tränke unsere Furchen!“ Oha.

Gibt es unter diesen Umständen überhaupt so etwas wie „richtiges“ Verhalten? Wie sollen wir in Zeiten von globaler Vernetzung denn nun gemeinsam und angemessen um den Verlust von Menschen, Gerechtigkeit und Lebensfreude trauern? Kaum zeigt man öffentlich Betroffenheit, fühlt sich unter Garantie so ein selbstgerechter Zyniker berufen, einem grenzdebile Naivität und fehlende Empathie für hungernde Kinder in Afrika zu unterstellen. Oder aber man wird mit erhobenem Zeigefinger von einem Besserwisser wegen angeblich genetischer Blödheit mit groben Worten diffamiert. Das geht ruckzuck im „sozialen“ Netz. Also besser gleich den Rückzug ins Private?

Ich weiß aus Erfahrung, wie schwer es ist, eine genial formulierte Beleidigung einfach mal nicht zu äußern, selbst wenn die Umwelt sich unfassbar begriffsstutzig anstellt und das Thema einen persönlich hohen Stellenwert hat. Doch mit Zynismus habe ich noch nie jemanden überzeugt. Und auch ich bin wenig einsichtig, wenn sich jemand verbal auf meine Kosten erleichtert.

„O Freunde, nicht diese Töne! Sondern lasst uns angenehmere anstimmen“, Friedrich Schillers „Ode an die Freude“ ist in diesem Zusammenhang ungebrochen aktuell und die von Ludwig van Beethoven vertonte Version sogar unser aller Europahymne – als symbolischer Ausdruck für die Einheit in der Vielfalt. Weltumspannende virtuelle Verbindungen bieten uns eine echte Chance auf Meinungsaustausch, Wissenstransfer und Verständigung. Aber wir nutzen sie anscheinend lieber, um uns kleinkariert Schuld zuzuweisen. Damit verspielen wir großartige Möglichkeiten und das hat Konsequenzen. Denn Unwissenheit bietet den besten Nährboden für Angst und Egomanie. Stärke und Empathie gedeihen dagegen bestens im Umfeld von Wissen und Bildung.

Es folgt ein persönlicher Aufruf aus tiefstem Herzen: „Lasst uns angenehmere anstimmen“! Sagt mir eure Meinung, lasst mich teilhaben an euren Gedankengängen, gebt mir die Chance die Welt mit euren Augen zu sehen, seid meine Feuerleiter beim Versuch Blockaden zu überwinden. Wir guten Menschen und alle, die sich dafür halten, könnten im respektvollen Dialog mutig und stark werden, wenn wir versuchen würden, ehrlich zu verstehen, statt wortgewaltig zu überzeugen. Geben wir der Welt etwas an die Hand, wovon sie langfristig profitieren wird.

Ganz nebenbei lernen wir uns und andere auf diese Weise besser kennen. Und es könnte tatsächlich passieren, dass wir einander vertraut werden. Das ist natürlich nicht ganz ohne.

Oder um es mit den Worten des französischen Schriftstellers Antoine de Saint-Exupéry zu sagen: „Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast.“

„Ich bin für meine Rose verantwortlich…“, wiederholte der kleine Prinz, um es sich zu merken.